Wie wirksam ist Fairtrade wirklich?

Fairtrade wird oft als „der Goldstandard“ für den Handel mit Produkten aus dem globalen Süden wahrgenommen. Doch gesellschaftliche Ungleichheiten in Südafrika kann der faire Handel allein nicht überwinden – und so fehlt auch den Frauen, die auf Fairtrade-zertifizierten Weingütern arbeiten, das Geld, das sie bräuchten, um ihren Alltag zu bestreiten und ihre Träume zu verwirklichen.
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„Es wurde immer gesagt, dass Fairtrade sich um uns kümmert und auf unsere Bedürfnisse eingeht, aber das sehe ich nicht“, sagt Anna[i]. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie in einem Fairtrade-zertifizierten Betrieb, der am südafrikanischen Westkap Wein erzeugt und in verschiedenen Ländern – darunter auch Deutschland – verkauft. Die Preise einzelner Flaschen übersteigen das, was Anna und ihre Kolleginnen pro Stunde verdienen, um ein Vielfaches. Mit den Arbeitsbedingungen ist sie im Großen und Ganzen zufrieden. Sie ist stolz auf die Qualität des Weins, den sie und ihre Kolleg*innen herstellen. Als ich Anna jedoch nach ihrem Lohn frage, antwortet sie: „Das ist die eine Sache, die mich unglücklich macht. Ich bin mit meinem Gehalt nicht zufrieden. Es gibt so viele Dinge, die ich gerne tun würde, aber nicht tun kann“. Dafür, dass sie unter teils extremen Wetterbedingungen draußen zwischen den Rebstöcken arbeiten, wird ihnen kaum Wertschätzung entgegengebracht, berichtet mir Anna. Sie und ihre Kolleginnen erhalten den Mindestlohn – das sind in Südafrika etwa 25 Rand pro Stunde, umgerechnet knapp 1,30€. Davon kann ich mir während meines Aufenthalts in Kapstadt im Supermarkt zwei große Flaschen Wasser, ein Brot oder eine Packung Binden kaufen.
Doch nicht einmal die Zahlung des Mindestlohns scheint auf allen Fairtrade-zertifizierten Weingütern gewährleistet zu sein – zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung im Auftrag des Women on Farms Project (WFP), für die Angestellte von 18 der insgesamt 24 Fairtrade-zertifizierten Weinproduzenten in der Region Cape Winelands am Westkap zu ihren Arbeits- und Lebensbedingungen befragt wurden. Mehr als neun von zehn der dort Beschäftigten gaben bei der Befragung außerdem an, dass der Lohn, den sie für ihre Arbeit erhalten, für sie nicht existenzsichernd sei. Für Konsument*innen in Europa, die mehr Geld für fair gehandelte Produkte zahlen in der Hoffnung, damit Menschen im globalen Süden ein gutes Einkommen zu ermöglichen, dürfte das eine herbe Enttäuschung sein.
Fairtrade Deutschland reagierte auf die Studienergebnisse umgehend: Der Organisation sei die transparente Aufklärung der Vorwürfe ein drängendes Anliegen. „Allen Anschuldigungen werden wir in Zusammenarbeit mit unseren Kolleg*innen vor Ort umfassend nachgehen“. Bezüglich der Löhne erklärt Edith Gmeiner von Fairtrade Deutschland, es sei klar, dass in diesem Bereich „noch sehr viel passieren muss“. Der Organisation sei schmerzlich bewusst, wie groß die Lücke zwischen Reallöhnen und existenzsichernden Löhnen oftmals ist. Ein Argument gegen eine sofortige Erhöhung der Löhne auf ein existenzsicherndes Niveau sind die Preise auf Seiten der Verbraucher*innen: „Würden wir dieses Lohnniveau verpflichtend fordern, würden sich die zertifizierten Fairtrade-Organisationen aus dem Markt preisen“ so Gmeiner. Auch mir ist klar, dass Fairtrade-Produkte bezahlbar sein müssen, um von der breiten Masse europäischer Konsument*innen nachgefragt werden. Erst wenn Produzent*innen über einen längeren Zeitraum einen großen Teil ihrer Ernte zu Fairtrade-Bedingungen verkaufen könnten, könne Fairtrade durch die dafür gezahlten Mindestpreise und die Prämie eine umfassende Wirkung entfalten, heißt es sinngemäß im Statement von Fairtrade Deutschland.
Colette Solomon, Direktorin des WFP, gibt jedoch zu bedenken: „Viele dieser Betriebe sind seit mehr als zehn Jahren zertifiziert, und dennoch haben die Arbeiter*innen immer noch keine Toiletten, sind immer noch Pestiziden ausgesetzt und erhalten immer noch nicht den Mindestlohn“. Während sie Fairtrade in der Verantwortung sieht, das System zur Meldung von Missständen zu verbessern und Audits – also Prüfungen der Betriebe – durchzuführen, nimmt sie auch die Politik in die Verantwortung: „Als Gesetzeshüterin des Arbeitsrechts in Südafrika ist das Ministerium für Beschäftigung und Arbeit in Südafrika letztendlich dafür verantwortlich, die Gesetze unseres Landes durchzusetzen“. Ihrer Ansicht nach hat das Ministerium die Landarbeiterinnen im Stich gelassen. Deshalb fordert das WFP in einem Schreiben an Thulas Nxesi, Minister für Beschäftigung und Arbeit, die Durchsetzung des geltenden Arbeitsrechts sowie Inspektionen der Weingüter. Auch Gmeiner von Fairtrade Deutschland betont die Rolle der Politik: „Living Wages sind eine Aufgabe, die Fairtrade nicht alleine stemmen kann. Es braucht gemeinsame Anstrengungen von Politik, Industrie und der gesamten Lieferkette bis hin zu Verbraucher*innen“.
Ich möchte besser verstehen, weshalb in der etwa 30 Jahre jungen Demokratie noch immer so viele Frauen, Schwarze und coloured[ii] Personen unter schwierigen finanziellen und gesundheitlichen Bedingungen im Weinanbau arbeiten. Darum habe ich mich gemeinsam mit einem weiteren Journalisten und einer Übersetzerin vom Women on Farms Project auf den Weg zu Anna und ihrer Kollegin Patricia gemacht. Anna sitzt auf einem Stuhl vor ihrer Hütte, als sie uns von ihren Träumen erzählt. Sie wollte Krankenpflegerin werden, Menschen helfen. Doch obwohl sie gut in der Schule gewesen sei, erzählt Anna, habe sie schon als junge Frau angefangen auf einem Weingut zu arbeiten – auch, um sich Dinge leisten zu können, die ihre Eltern ihr nicht kaufen konnten. Inzwischen hat sie selbst Kinder und muss schauen, wie sie mit ihrem Lohn auskommt.
Auch Patricia[iii] arbeitet bereits seit über zehn Jahren auf demselben Weingut wie Anna. Wir treffen sie nach der Arbeit in ihrem neuen Zuhause. Sie ist mit ihrer Familie kürzlich erst eingezogen und träumt davon, ihren Bungalow weiter einzurichten. Für ihren Job ist sie eigentlich überqualifiziert; trotzdem hat sie bis heute keinen höheren Posten bekommen und verdient aktuell genauso viel wie die anderen Landarbeiter*innen. Patricia betont: „Nein, nein, das ist kein existenzsichernder Lohn“. Von einem existenzsichernden Lohn hingegen wäre es möglich, dass ihre Kinder eine gute Schule besuchen, und vielleicht eines Tages zur Uni gehen – denn falls nicht, könnten auch sie als Angestellte auf dem Feld landen, so Patricia.
Ich frage Carmen Louw, stellvertretende Direktorin des Women on Farms Projects, worauf diese anhaltenden Ungleichheiten zurückzuführen sind. „Die Farmen im Westkap, insbesondere in den Cape Winelands, gehen auf die Kolonialzeit zurück, als Sklavenhalter die Farmen gründeten. Viele der heutigen Landarbeiter*innen sind Nachkommen von Sklaven. Ihre Vorfahren besaßen als Jäger und Sammler zwar kein Land, aber das Land gehörte ihnen, bis die Kolonialmächte kamen und es sich nahmen“. Auch das Weingut, auf dem Anna und Patricia arbeiten, wurde während der Kolonialzeit gegründet, oder, wie es beschönigend heißt: Das Land wurde „an Siedler übergeben“. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts befindet es sich nun im Besitz einer Familie mit europäischen Wurzeln, die es von Generation zu Generation weitervererbt. Das ist keine Seltenheit, bestätigt mir die stellvertretende Direktorin des Women on Farms Projects. Ihr zufolge gehören viele der Betriebe seit hundert Jahren immer noch denselben Familien. „Die Apartheid setzte die Ungleichheit bei der Landverteilung fort. So wurde 1913 ein spezielles Gesetz erlassen, das Schwarzen den Besitz von Land untersagte“, erklärt Louw. Noch heute gehören ihr zufolge mehr als drei Viertel der landwirtschaftlichen Flächen der weißen Minderheit – und davon mehrheitlich Männern. Daran hat auch eine Landreform kaum etwas geändert.
An den Besitzverhältnissen, die auf eine Zeit der rechtlichen Unterdrückung von Frauen, Schwarzen und coloured Personen zurückgehen, rüttelt auch die Fairtrade-Prämie nicht. Die Prämie ist eine zusätzliche Geldsumme, die Beschäftigte empowern soll, indem damit Projekte in den Betrieben oder Communities finanziert werden. Die Arbeitnehmer*innen sollen laut Fairtrade Richtlinien selbst entscheiden können, wie sie die Prämie verwenden, um ihren Lebensunterhalt zu verbessern. In der Regel können jedoch nur 20 % der Fairtrade Prämie bar an die Beschäftigten ausgezahlt werden, sodass sie nur über einen kleinen Teil des Geldes völlig frei verfügen können. Fairtrade begründet das damit, dass so verhindert werden soll, dass die Prämie zur Aufstockung der regulären Löhne verwendet wird, da das die Tarifverhandlungen untergraben könnte. Was in der Theorie sinnvoll klingt, ist bei einem Lohn, der weit entfernt davon ist, existenzsichernd zu sein, zermürbend. Denn in einem Land, in dem der gesetzliche Mindestlohn so niedrig ist, dass sich viele Familien phasenweise kein frisches Gemüse leisten können, sind 20 % der Fairtrade-Prämie nicht viel mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Auf dem Weingut, um das es hier geht, wurden zwar verschiedene Projekte und Anschaffung mithilfe der Prämie finanziert – „aber was nimmst du am Ende des Tages mit nach Hause?“, fragt Patricia. Das Prämiensystem ist für sie ein frustrierendes Thema. Sie findet: „Es hält dich davon ab, zu tun, was du willst. Es heißt, dass es dein Geld ist und dass die Leute damit tun können, was sie wollen, aber du kannst mit dem Geld nicht tun, was du willst. Das ist die Geschichte, die sie da draußen verkaufen, aber dann gibt es diesen Standard und der besagt, dass man dieses und jenes mit dem Geld nicht machen kann“. Sie stellt klar: „Wenn ich etwas damit kaufen will, muss es eine Notwendigkeit sein; etwas, ohne das man nicht leben kann“. Auch eine Untersuchung aus dem Jahr 2022 attestiert Fairtrade, dass Beschäftigte in minimal verbesserten Bedingungen unter einer gläsernen Decke gehalten werden. Gegen ein politisches System, das Ungleichheiten nur schleppend abbaut und sie oft reproduziert, scheint das Siegel in Südafrika also bisher nicht viel ausrichten zu können. Mindestlohn und Prämie reichen für die Beschäftigten und oftmals auch für ihre Kinder nicht, um sich aus der Abhängigkeit weißer, männlicher Weingutbesitzer zu lösen und eigene Ziele zu verfolgen.
Für viele Produkte mag Fairtrade neben „Direct Trade“ bisher der beste – wenngleich ausbaufähige – Ansatz sein, den wir haben: Kaffee, Schokolade, Bananen, Baumwolle. Doch gerade bei Wein stellt sich die Frage, weshalb er tausende Kilometer weit entfernt im großen Stil angebaut wird, wenn er auch vor unserer Haustür in der Pfalz wächst. Colette Solomon vom WFP stellt fest: „Die Mehrheit der Bevölkerung in Südafrika trinkt keinen Wein und ein großer Teil, nämlich 20 bis 25 % der Bevölkerung, leidet unter Hunger und Ernährungsunsicherheit. Trotzdem werden Tausende von Hektar erstklassiger landwirtschaftlicher Flächen für den Weinanbau genutzt. Aber ist das richtig? Ist das in Anbetracht des Klimas logisch?“ Sie betont, dass das Westkap anfällig für Dürreperioden ist und erinnert mich an die Wasserkrise, durch die Kapstadt vor ein paar Jahren kurz vor dem so genannten „Day Zero“ stand. Dann fragt sie nochmal: „Ist es also angesichts all dieser Umstände sinnvoll, dass wir all dieses wertvolle Land für Wein nutzen, der nach Europa exportiert wird?“.
Sie und die Mitarbeiterinnen des WFP fordern eine Reform des Agrarsystems – eine Landwirtschaft, der andere Werte zugrunde liegen. Momentan seien in Südafrika Gewinnmaximierung und Profite wichtiger als die eigentliche Lebensmittelproduktion und die Ernährungssicherheit. Solomon wünscht sich deshalb ein reformiertes System, „in dem die Menschen zumindest über Land verfügen, um Lebensmittel für sich selbst und für ihre Community zu produzieren“. Mit einer feministischen Reparationskampagne will das Women on Farms Project außerdem einen Systemwandel für Arbeitnehmerinnen erzielen und die historischen Benachteiligungen angehen, die sie erlitten haben. Durch die Einführung einer Reichensteuer sollen Programme finanziert werden, die helfen, die generationenübergreifende Armut und die systembedingte Ungleichheit in landwirtschaftlichen Betrieben zu bekämpfen, erklärt mir die stellvertretende Direktorin der NGO.
Für mich zeigt das Beispiel Südafrika nur einmal mehr die Grenzen grünen Konsums und die Notwendigkeit politischer Veränderungen, für die auch wir im globalen Norden Verantwortung tragen. Mit dem Kauf von Fairtrade-Produkten ist es jedenfalls nicht getan. Verantwortung zu übernehmen kann stattdessen bedeuten, Kolonialgeschichte aufzuarbeiten, Reparationen zu zahlen, Lieferketten transparenter zu machen und zu hinterfragen, inwiefern es vertretbar ist, kostbare landwirtschaftliche Fläche und Wasser im globalen Süden für unseren Genuss überhaupt erst zu beanspruchen.
Volle Transparenz: Die Reise nach Südafrika, während der die Fotos und Interviews für diesen Beitrag entstanden sind, wurde von Oxfam Deutschland durch das EU-Projekt „Our Food. Our Future“ ko-finanziert. Ein großer Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen des Women on Farms Projects für die Unterstützung bei der Organisation und bei der Übersetzung der Interviews.
Hinweise zur Wortwahl:
[i] Name zum Schutz der Interviewpartnerin geändert.
[ii] Der Begriff „coloured“ wird in Südafrika von Personen, die Schwarze und weiße Vorfahren haben, als Selbstbezeichnung verwendet. Da die deutsche Übersetzung „farbig“ negativ besetzt ist, wurde der Begriff nicht übersetzt.
[iii] Name zum Schutz der Interviewpartnerin geändert.